Die Tuschearbeiten der Zeichnerin Luise von Rohden lassen spürbar werden, was sich zwischen den Tuschelinien, ihren Leer- und Zwischenräumen wie ihren rhythmischen Wiederholungen in scheinbar unendlicher Folge und Verdichtung ereignet. Es entsteht etwas wie Sein in der Linienbewegung, das ebenso Blattraum vereinnahmen und ausdehnen kann wie ihn zu verlassen scheint – im angehaltenen Atem verstreichender Zeit. Sichtbar gewordene Zeit im Raum der Zeichnung, fein und präzis geschrieben wie alte Traktate, die wir zu kennen meinen und doch nicht zu erfassen vermögen, weil sie zwischen nah und fern changieren.
Von beeindruckender Dignität sind besonders die großen Formate und sind doch nicht pathetisch, sondern einfach schön. Diese Schönheit schreibt ihnen die Künstlerin direkt und unvermittelt als ihre eigene Konzentrationsspur ein. Sie verbreitet in ihnen eine Aura der phänomenologischen und bestimmten Reduktion, die Ruhe und Weite im Blattraum schafft. Die Geste der zeichnenden Hand scheint in den ganzen Körper verlagert worden zu sein, gleichermaßen für die Autorin wie für alle Betrachtenden. Diese Geste kann aus dem Raum, in dem sie entstanden ist, weiterlaufen in den Raum, der sie zeigt. In ihm wird das zeichnerische Vorgehen nachlesbar, sichtbar und wie musikalischer Ton notiert.
Ausgedehnt und still ist diese Schönheit, Echo gelöster Fragen in den Tuschefalten der Zeichenzeit. Ihre Einzelelemente, wie Schriftzeichen addierend und verdichtend, beschreiben nichts Äußeres, sondern werden aus und mit sich selbst zum Ganzen. Komplex einfach und einfach komplex – in der Erscheinungsweise allgemein, abstrakt, bedeutungsoffen. Kommen diese Tuschekonzentrate aus dem Nichts oder entstammen sie einer Erzählung, die sich verschweigt? Wie bildet sich ihr Impuls und warum scheinen sie unverrückbar und verständlich, ohne ein Verstehen zu evozieren oder zu adressieren? Die Unergründbarkeit der beschriebenen Oberfläche offenbart sich beim Ansehen des Tuns der Künstlerin: Im Zeichenprozess ist zu sehen, wie die Wiederholung als Veränderung erscheint und einholt, was unbeschrieben bleibt.
In den Arbeiten, die Sound mit Zeichnung verbinden oder auch in installativen, früheren Arbeiten legt Luise von Rohden der Linearität die Zügel an und führt sie daran in den Außenraum – so wird aus der kontemplativen Aufladung die Entladung in Realität oder akustischen Raum. Raum und Zeit – harmloser sind hier die grundlegenden Kategorien nicht zu beschreiben – nehmen uns ein und tragen uns ein zeichnerisches Denken an, dessen Kartographie die Künstlerin sinnlich übersetzt. Sie entführt uns bei jeder gesehenen Tuschespur in geistiges Verstehen oder verführt uns in den Windungen der grafischen Ästhetik zum Staunen.
Sichtbar werden bei ausdauerndem Anschauen allmählich auch geometrische Raster, die aus Überlagerungen entstehen und der fließenden Betrachtungszeit zuwiderlaufen: Der Halt des unhaltbar Vergangenen taucht immer wieder neu auf und belebt die in sich ruhende Tuschefarbfläche mit konstruktivem, doppeltem Boden, der gesehen oder übersehen werden kann. So fließen aus der Unbestimmbarkeit Bestimmung und Grenze. Ein Modell gefasster Lesbarkeit der sichtbar werdenden Zeichnung im (zeichnenden) Zeitvollzug.
Luise von Rohden: Zeichnung, artnow Gallery, Berlin 2018
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