Schaut man auf die geometrischen Module in den Bildern der jungen Luise von Rohden, Jahrgang 1990, fühlt man sich an Werke der konkreten Kunst, des Konstruktivismus und der Minimal Art erinnert. Sie alle Kunstrichtungen, die mit einem hohen ästhetischen Sendungsbewusstsein auftraten. Beispielhaft dafür sei hier Donald Judd (*1928 Excelsior Springs – †1994 New York) genannt, einer der Protagonisten der amerikanischen Minimal Art, der für die Kunst eine Art von „Urmeter“ forderte, ohne dass, Judd zufolge, alle künstlerischen Werke „nur Show und Getue“ seien. Die Minimalisten waren auf der Suche nach ultimativen Formen und Formeln in der Kunst. Das Ideal ihrer Gestaltung waren einfache und klare, an der Geometrie orientierte Grundstrukturen, sogenannte „Primary Structures“. Dabei ging es ihnen um eine absolute Identität der Form mit sich selbst. Jeder Illusionismus war verpönt, hatten doch nicht zuletzt Täuschungen aller Art zu den großen Katastrophen und Zivilisationsbrüchen des Zwanzigsten Jahrhunderts geführt. Die Kunst sollte dagegen als Antidot wirken. Mit einem Wahrheitsanspruch, der an das kartesianische Versprechen erinnert, Welt und Wirklichkeit im strahlenden Licht einer unanfechtbaren Logik zu erfassen. „Clare et distincte“, wie der Philosoph des „Cogito, ergo sum“ selbstbewusst schrieb.
In solchen Gleichungen des Menschen ist der Mensch paradoxerweise am Ende der eigentliche Unsicherheitsfaktor. Denn er neigt nicht nur zur Selbstüberschätzung, sondern auch zum Irrtum. Daher hätten ihn die Minimalisten auch am Liebsten aus ihren Werken eliminiert. Aber eine komplette Selbstabschaffung hätte auch die Abschaffung ihrer Kunst zur Folge gehabt. Deshalb vollzog sie sich nur in symbolischer Form. Keine subjektive Handschrift sollte in ihren Werken sichtbar sein, für die sie am Liebsten industriell hergestellte Materialien wählten. Die Formen ihrer Kunst, zwecks größerer Eindringlichkeit in serieller Wiederholung präsentiert, bezeugten stets aufs Neue ihr Streben nach Objektivität. Mit diesem Kanon der Minimal Art setzt sich Luise von Rohden in ihren Werken auseinander. Einerseits behält sie ihn bei, andererseits bricht sie radikal mit ihm. Dabei praktiziert sie einen überzeugenden ödipalen Aufstand gegen die Künstlergeneration ihrer Väter und Großväter.
Was von Rohden beibehält sind geometrische Strukturen und Formen als Sujets ihrer Bilder. Aber sie machen nicht einmal im Ansatz den Versuch, sich in perfekter, also absolut identischer Form zu präsentieren. Dagegen spricht schon das traditionelle Medium, dessen sich die Künstlerin mit großer Könnerschaft bedient. Sie arbeitet mit Tusche und Pinsel auf Papier. Wobei sie ihren Pinsel immer erst wieder in die Tusche taucht, wenn er seine Farbe weitestgehend an das Papier abgegeben hat. Dadurch kommt es zu reizvollen Unregelmäßigkeiten im Farbauftrag. Die Oberfläche ihrer Bilder beginnt zu atmen und zu leben, analog zur satten und weniger satten Abgabe der Tusche. Und natürlich sind auch die Pinselzüge, ob sie nun in der Horizontalen, Diagonalen oder Vertikalen verlaufen, auch nicht total identisch miteinander. Man schaue sich daraufhin nur das 180 x 150 cm große Werk Vertikale (v m/vs 0/11) (2015) an. In den diskreten Verwerfungen von Form und Farbe bei Wiederholung eines identischen Motivs – Luise von Rohden spricht von System – träumt die Anarchie. Oder, wenn man so will, auch die Entropie. Der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik lehrt uns, dass in geschlossenen Systemen die Unordnung notwendig wächst.
Was wir an diesem Bild erkennen können, gilt grosso modo für alle anderen Werke der Künstlerin ebenfalls. Damit sind sie großartige Metaphern für eine Condition humaine, deren Prägung darin besteht, kompliziert zu sein. Oder wie Thomas Bernhard (*1931 Heerlen – †1989 Gmunden) geschrieben hat: „Einfach kompliziert“. Exakt so, wie die Bilder von Luise von Rohden zugleich einfach und kompliziert sind. Sie sind damit viel näher an der eigentlichen Natur des Menschen als alle auf Maß und Zahl, Symmetrie und Proportion verpflichteten Werke der Minimal Art. Während sie uns ein Ideal vor Augen stellen, konfrontiert uns von Rohden mit der Wirklichkeit. Auf die es sich einzustellen gilt! Nichts spricht dagegen, sich einem Ideal zu nähern. Es indes erreichen zu wollen, eins mit ihm werden zu wollen, ist Hybris. Nam June Paik (*1932 Seoul – †2006 Miami) wusste das und hat ein solches Tun in einem Multiple scherzhaft kommentiert und kritisiert: „Wenn zu perfekt, liebe Gott böse!“ Vor ihm beschwor bereits Rainer Maria Rilke in den Duineser Elegien den zerstörerischen Charakter des Vollkommenen: „Denn das Schöne ist nichts / als des Schrecklichen Anfang, den wir noch gerade ertragen, / und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, / uns zu zerstören.“
erschienen 2018 im Katalog zur Ausstellung „präsenz Gotha & Thüringen“, Städtische Kunstsammlung Salzgitter
© 2021 Luise von Rohden, VG Bild-Kunst